Tipps

Komplikationen während der Geburt



Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass eine Geburt die natürlichste Sache der Welt ist. Da ist sicherlich richtig, wenn man daran denkt, dass tausende von Kindern weltweit jeden Tag gesund zur Welt kommen.

Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, dass im Zusammenhang mit einer Entbindung akut und teilweise nicht vorhersehbar Komplikationen eintreten können, die – werden sie von den Geburtshelfern nicht frühzeitig erkannt und schnellstens erfolgreich behandelt – zu schwersten Schädigungen des Kindes und damit dessen lebenslanger Behinderung und Pflegebedürftigkeit führen können.

Während meiner Tätigkeit als Patientenanwältin lerne ich immer wieder Familien mit schwerstbehinderten Kindern kennen. Oft wird mir im Gespräch mit den Betroffenen bewusst, dass viele dieser Menschen wegen fehlender Informationen gar nicht wissen, zu welchen Komplikationen es unter der Geburt gekommen und worin die Ursache für die Behinderung ihres Kindes zu sehen ist. Aus diesem Grunde soll nachfolgend auf mir in meiner täglichen Praxis regelmäßig begegnende typische geburtshilfliche Komplikationen eingegangen werden.

Zunächst möchte ich mich mit der sogenannten Schulterdystokie beschäftigen.

Unter einer Schulterdystokie versteht man einen Geburtsstillstand nach Geburt des kindlichen Kopfes, wobei zwischen dem hohen Schultergeradstand, bei dem nach Geburt des Kopfes eine Schulter hinter der Symphyse hängen bleibt, und dem tiefen Schulterquerstand, bei dem die Schulterdrehung im kleinen Becken nach Geburt des Kopfes ausbleibt, unterschieden wird.

Die Schulterdystokie zählt zu den zwar seltenen, aber besonders gefährlichen Komplikationen unter der Geburt, die der Geburtshelfer nur mit speziellen geburtshilflichen Manövern beherrschen kann.

Das Kind kann bei einer Schulterdystokie schwerwiegende Schäden davontragen. Diese reichen von der Plexusparese über die Halsmarkzerreißung bis zu schwersten Gehirnschäden aufgrund von Sauerstoffmangel. Die mütterlichen Schäden können ebenfalls gravierend sein. Zu nennen sind hier der Scheidenriss oder die Uterusruptur.

Die Kommunikation zwischen den Eltern und den Geburtshelfern gestaltet sich oft schwierig, wenn solche Komplikationen eingetreten sind. Mit dem Begriff "Schulterdystokie" können denn auch die wenigsten betroffenen Eltern etwas anfangen, weil sie gar nicht darüber informiert werden, was sich bei der Entwicklung des Kindes ereignet hat. Häufig wird berichtet, dass Panik ausgebrochen sei, die die Eltern hätten das Gefühl gehabt, die Hebamme oder der Arzt würden dem Kind den Kopf abreißen, es sei wild gezerrt und gezogen worden. Diese Dramatik findet sich in den Krankenunterlagen regelmäßig nicht wieder. Dokumentiert wird teilweise der Hinweis auf eine schwere Schulterentwicklung. Oft wird auch behauptet, die Mutter sei "unkooperativ" gewesen. In vielen Fällen findet sich jedoch im Geburtsprotokoll überhaupt keine Erwähnung einer Komplikation bzw. einer kindlichen Schädigung.

Deshalb kann sich im Fall einer Schulterdystokie die nachträgliche Aufklärung des Geburtsgeschehens im Schadensfall schwierig gestalten.

Auch in den Fällen einer Schädigung im Rahmen einer Schulterdystokie kommt es – wie stets bei der Behandlungsfehlerhaftung - darauf an, ob in Diagnostik und Therapie die erforderliche Sorgfalt eingehalten wurde. Die Beweislast dafür, dass die gebotene Sorgfalt nicht beachtet wurde, obliegt dem Patienten, also dem geschädigten Kind und seiner Familie.

Kommt ein medizinisch anerkanntes Verfahren zur Lösung der Schulterdystokie zur Anwendung und wird dieses richtig durchgeführt, dann kann nicht von einem Behandlungsfehler ausgegangen werden, selbst wenn das Kind hierbei einen Schaden davonträgt. Die Lösung einer Schulterdystokie verlangt rasches und tatkräftiges Handeln des Geburtshelfers, bei dem eine Schädigung des Kindes nicht immer vermeidbar ist. Wendet der Arzt unstreitig eine anerkannte Methode zur Beherrschung der Schulterdystokie an, kommen dem Kläger keine Beweiserleichterungen wegen mangelhafter Dokumentation zugute (OLG Zweibrücken VersR 1997, 1103)

Das bedeutet also, dass die Plexusparese als häufigster Folgeschaden der Schulterdystokie keine Beweiserleichterung zum Nachweis eines ärztlichen Fehlers begründet.

Als behandlungsfehlerhaft ist dagegen jedes methodisch nicht abgesicherte Vorgehen anzusehen. Ein solches ist auch nicht durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, den Geburtsstillstand überstürzt zu beenden, um die Gefahr des Todes oder einer schweren hypoxischen Schädigung des Kindes zu vermeiden. Jedes forcierte und überstürzte Vorgehen falsch und gefährlich und damit kontraindiziert, Insbesondere ist es behandlungsfehlerhaft, wenn von oben unkoordiniert Druck ausgeübt wird, solange die Schulter nicht frei ist (vgl. OLG Stuttgart VersR 1994, S. 1114 ff.). Gerade bei überstürzten, forcierten und mit übermäßiger Einwirkung durch Drehung, Zerrung oder Druck verbundenen Extraktionsversuchen treten Plexusparesen auf (OLG Köln VersR 1994, S. 1424 ff.).

Als behandlungsfehlerhaft wird auch das Unterlassen eines Scheiden-Damm-Schnitts (Episiotomie) bei einer schwierigen Entwicklung des Rumpfes angesehen, wobei die Qualität dieses Unterlassens von den Gerichten unterschiedlich bewertet wird. Während das OLG Oldenburg (VersR 1994, S. 432 ff.) das Unterlassen der Episiotomie als groben Behandlungsfehler gewertet hat, hat das OLG Köln darin nur einen einfachen Behandlungsfehler gesehen (OLG Köln VersR 1994, 1424).

Diese unterschiedlichen Bewertungen haben erhebliche beweisrechtliche Konsequenzen. Es lässt sich nämlich nicht beweisen, dass eine Plexusparese bei Schulterdystokie direkte Folge von falschem Kristellern oder dem Unterlassen einer Episiotomie ist. Studien haben vielmehr gezeigt, dass eine Plexusparese auch intrauterin ohne Schulterdystokie entstehen kann.

Diese Erkenntnisse berücksichtigt das OLG Hamm in seinem Urteil vom 10.05.2002 (3 U 155/01). Es weist die Klage ab mit der Begründung, weder aus der Darstellung des Geburtsverlaufs durch den Kläger noch aus dem Umstand der aufgetretenen Arm-Plexus-Lähmung lasse sich mit dem für die Beweisführung erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit das Eintreten einer Schulterdystokie feststellen.

Die genaue Ursache für diese Schädigung ohne Schulterdystokie kennt man nicht, es wird vermutet, dass hierfür eine Zwangslage des Feten im Mutterleib oder eine Traumatisierung durch die Wehenkräfte, die den Feten gegen die Uteruswände pressen, verantwortlich sind.

Kann dagegen das Vorliegen einer Schulterdystokie und deren fehlerhafte Lösung bewiesen werden, spricht zwar vieles dafür, dass der Behandlungsfehler zumindest mit ursächlich für die Schädigung geworden ist. Dies reicht aber für einen Prozeßgewinn nicht aus, da, wie oben beschrieben, auch bei einer fachgerechten Lösung der Schulterdystokie eine kindliche Schädigung nicht sicher auszuschließen ist. Erst wenn ein grober Behandlungsfehler angenommen wird, muss die Behandlerseite beweisen, dass die Plexusparese auch dann eingetreten wäre, wenn die Schulterdystokie lege artis gelöst worden wäre.

Die Beweislage ist in Fällen von Schulterdystokie für den Kläger sehr schwierig, da der Behandlungsfehler in der Regel nicht dokumentiert ist. Es stellt sich deshalb die Frage nach möglichen Dokumentationsversäumnissen und sich hieraus ergebenden Beweiserleichterungen zugunsten des geschädigten Kindes.

Was muss im Fall einer erschwerten Schulterentwicklung oder einer Schul-terdystokie dokumentiert werden? Sowohl das Auftreten dieser Komplikation an sich als auch das Vorgehen zu ihrer Lösung bedürfen der Dokumentation. Kann infolge unterbliebener Dokumentation nicht mehr festgestellt werden, wie die Schulterdystokie gelöst worden ist, so lässt dies zugunsten des klagenden Kindes die Vermutung zu, dass dabei nicht lege artis vorgegangen worden ist (OLG Köln, VersR 1994, S. 1424 ff.; OLG Stuttgart, VersR 1999, S. 582 ff.). Es wird also vermutet, dass die Behandlung fehlerhaft war, bis Arzt oder Hebamme das Gegenteil beweisen.

Ein Dokumentationsmangel liegt auch vor, wenn lediglich "sehr schwere Schulterentwicklung" dokumentiert wird. Wie bei jeder geburtshilflichen Komplikation, bei der rasch gehandelt werden muss, wird nicht verlangt, dass nun eine weitere Person als Beobachter des Geschehens den Ablauf der the-rapeutischen Bemühungen unmittelbar beschreibt. Die Dokumentation hat aber zeitnah" stattzufinden (OLG Celle 1 U 22/97).

Die nicht erfolgte oder mangelhafte Beschreibung der Geburtssituation im Krankenblatt begründet die Wahrscheinlichkeit, dass der behandelnde Arzt vom Auftreten der Dystokie überrascht wurde und infolge dessen überstürzt und ohne gezielte Anwendung einer anerkannten Methode vorgegangen ist und forcierte Extraktionsversuche vorgenommen hat. Denn es hätte bei Anwendung einer anerkannten Methode nahegelegen, diese auch zu dokumentieren (OLG Köln, a.a.O.).

Von haftungsrechtlicher Relevanz ist aus die Tatsache, dass eine Schulterdystokie das Eingreifen eines Facharztes erforderlich macht. Die Kompetenz der Hebamme endet hier. Nur wenn ein Arzt nicht erreichbar ist, darf sie die Regelwidrigkeit selbst behandeln. Arztruf und Umstände der rechtzeitigen Benachrichtigung eines Facharztes müssen dokumentiert werden.

Der Träger der Geburtsklinik hat den Facharztstandard vorzuhalten, und zwar auch außerhalb der Dienstzeiten, wobei die Rufbereitschaft eines Facharztes innerhalb der Klinik ausreicht. Der Krankenhausträger hat auch durch organisatorisch klare Anweisungen gegenüber den Geburtshelfern (Arzt und Hebamme) zu gewährleis-ten, dass zur Entwicklung eines Kindes bei festgestellter Schulterdystokie sofort ein Facharzt hinzugezogen wird (OLG Stuttgart, VersR 1994, S. 1114 ff.).

Die Kompetenzen zur Beherrschung, einer Schulterdystokie werden aber nicht erst nach deren Eintritt gefordert, sondern bereits darin, wenn mit einer Risikogeburt zu rechnen ist. Der Umstand, dass ein "großes Kind" zu erwarten ist, stellt zwar für sich genommen noch keine Indikation zum Kaiserschnitt dar, sie erfordert aber die Übertragung der Leitung der Geburt auf den erfahrensten Oberarzt (OLG Hamm, VersR 1991, S. 228).

Oft werde ich von Eltern gefragt, ob man nicht ihnen die Entscheidung, ob sie auf natürlichem Wege oder per Kaiserschnitt ihr Kind bekommen wollen, hätte überlassen müssen. Hierzu ist folgendes zu sagen:

Grundsätzlich sind die Geburtshelfer verpflichtet, rechtzeitig die erforderliche Aufklärung vorzunehmen und die Einwilligung der Patientin einzuholen   in allen Fällen, in denen die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass während des Ge-burtsvorgangs eine Situation eintritt, in der ihr weiteres rechtmäßiges Vorgehen voll einer besonderen Einwilligung ihrer Patientin abhängig ist (BGH VersR 1993, S. 703).

Eine solche ernsthafte Möglichkeit ist anzunehmen, wenn deutliche Anzeichen dafür bestellen, dass sich der Geburtsvorgang in Richtung auf eine Entscheidungssituation entwickeln kann, in der die Schnittentbindung notwendig oder zumindest zu einer echten Alternative zur vaginalen Entbindung wird. Dabei ist zu beachten, dass bei der Wahl der Entbindungsmethode das Recht jeder Frau, selbst darüber bestimmen zu dürfen, möglichst umfassend gewährleistet werden muss (BGH VersR 1993, S. 703).

Fraglich ist, ob die Geburtshelfer allein aufgrund der Tatsache, dass ein großes Kind erwartet wird, mit einer ernsthaften Möglichkeit eines Geburtsstillstandes, einer Schulterdystokie oder eines sonstigen Geburtshindernisses rechnen müssen. Die Rechtsprechung geht dahin, dass eine Aufklärung mangels Indikation zur Schnittentbindung dann nicht erforderlich ist, wenn das Kind zwar groß ist, die Mutter aber schon ein großes Kind komplikationslos geboren hat und auch sonst keine Risikofaktoren bestehen (OLG Stuttgart, VersR 1989, S. 519; OLG Hamm, VersR 1990, S. 52). Traten jedoch bei den vorangegangenen Geburten Probleme auf und wurde mit der Mutter die Möglichkeit einer Schnittentbindung erörtert, muss der Arzt die Mutter über die für sie und das Kind bestehenden Risiken aufklären und sich ihrer Einwilligung versichern (BGH 6 ZR 60/92).

Ist mit einem "sehr großen" Kind zu rechnen, muss die Mutter im Hinblick auf das Risiko einer Schulterdystokie auch über die Möglichkeit einer Schnittentbindung aufgeklärt werden (OLG Hamm, VersR 1997, 1403). Eine Aufklärung über die Möglichkeit einer Schnittentbindung ist auch erforderlich bei geschätztem hohen Geburtsgewicht und bei Vorliegen einer subklinischen diabetischen Stoffwechselstörung (OLG Hamm 3 U179/94). Auch bei einem geschätzten Geburtsgewicht von über 4.000 Gramm und Schulterdystokie bei einem 4.200 Gramm schweren vorausgegangenen Geschwisterkind ist die primäre Sektio eine Alternative, die mit der Mutter zu besprechen ist (OLG Köln, OLG Report 1997, S. 296). Über die primäre Sektio muss mit der Mutter auch gesprochen werden, wenn ein großes Kind erwartet wird und es sich um eine Erstgebärende handelt (LG Hannover Urteil vom 07.02.2002, Geschäftszeichen 19 O 249/01).

Nach diesen Entscheidungen muss also mit der Möglichkeit einer Schulterdystokie bei sehr großem Kind (über 4.500 Gramm bei deutlich erhöhtem Risiko von elf Prozent für eine Schulterdystokie) gerechnet werden muss, oder wenn bei vorangegangenen Geburten ähnliche Komplikationen aufgetreten sind.

Treten zu dem geschätzten Gewicht weitere Risikofaktoren hinzu, muss mit einer Pathologie des Geburtsverlaufs gerechnet werden muss. In einem solchen Fall dürfen die Geburtshelfer die Geburt nicht vaginal weiterführen, ohne die Mutter über die hiermit verbundenen Risiken und die Möglichkeit einer Schnittentbindung zu informieren.

Copyright © 2016 Rechtsanwältin Maigatter-Carus. Alle Rechte vorbehalten.

Joomla 1.6 Templates designed by Joomla Hosting Reviews